Zeitgemäßer Lebensstil: Soziale Normen und Reformen
In der Frühphase der Vegetarier-Bewegung imaginieren Satiriker neugierig und verspielt, wie sich diese Ernährungsweise und der Zusammenschluss in Vereinen wohl auf alle Bereiche des Lebens auswirken würde. Zwei Lieder eines Vegetarianers parodieren die konventionelle Liebesdichtung durch Anpassung an die neue Lebensweise. Das erste Gedicht, Liebesleid, beginnt der männliche Sprecher als Lob auf die pflanzengleiche Schönheit der angebeteten Dame, doch dann erinnert er sich an das Verbot, Fleisch zu lieben. Die mehrfach formulierte Einsicht, dass die Geliebte aus Fleisch und Blut ist, wirft den Verliebten auf den Boden der Tatsachen. Jedoch wird sein Wunschtraum, dass die Geliebte in den Vegetarier-Verein eintreten und sich langsam in Gemüse verwandeln würde, im zweiten Gedicht, Liebeslust, wahr: Der Liebende freut sich über die Verwandlung der Geliebten, auch wenn sie nur noch „Haut und Knochen“ sei. Die Text-Bild-Kombination mokiert sich über den Idealismus einer derart kurzsichtigen Utopie und die selbstgewählte Abspaltung der Vegetarierinnen und Vegetarier von der Gesellschaft.
Zwei Lieder eines Vegetarianers (Two songs of a vegetarian). Illustrations by Adolf Oberländer (1845–1923) and poems by I. Weiß, 1881.
Zwei Lieder eines Vegetarianers (Two songs of a vegetarian). Illustrations by Adolf Oberländer (1845–1923) and poems by I. Weiß, 1881.
Courtesy of Universitätsbibliothek Heidelberg.
Originally published in Fliegende Blätter 74, no. 1849–1874 (1881): 204.
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Liebesleid.
„Ach, Deine süßen Pfirsichwangen
Und Deiner Augen Pflaumenblau,
Wie nehmen sie mich ganz gefangen,
Du wundersame schöne Frau!
Ach, Deine süßen Kirschenlippen,
– Kein Bäumchen solche Kirschen hat –
Ich möchte Kirschen davon nippen,
Und glaub’, ich würde niemals satt.
Doch leider darf ich Dich nicht lieben,
Denn strenge lautet das Gebot:
Wenn Du es wagtest Fleisch zu lieben,
Ereilte Dich gewiß der Tod.
Und Du bist Fleisch, – Du süße Liese
Ja, Du bist Fleisch, ’s ist leider wahr … .
Ach, wärest Du nur von Gemüse,
Ich liebte Dich dann immerdar!“—I. Weiß, „Liebesleid“, Fliegende Blätter 74, no. 1849–1874 (1881): 204.
Liebeslust.
„O Liese, Rose der Gedanken,
O Liese, süßer Herzensgast,
O Liese, sag’, wie soll ich’s danken,
Daß Du mich so beglücket hast.
Des Fleisches wegen durft’ nicht lieben
Ich Dich, Du süßes Mägdelein,
Da hast Du schnell Dich eingeschrieben
In unser’n herrlichen Verein.
Nur Pflanzen aßest und Gemüse
Du mehr, und eh’ man sich verschaut,
Verlorst Du alles Fleisch, o Liese,
Du hast nichts mehr, als nur die Haut –
Die Haut und auch noch etwas Knochen,
Doch allen Fleisches bist Du bar,
D’rum, liebes Kind, in zweien Wochen
Schreit’ ich mit Dir zum Traualtar!“—I. Weiß, „Liebeslust“, ibid.
Viele Karikaturen belegen und mokieren sich darüber, dass der Vegetarismus in den 1880er Jahren schnell zum Zeitgeist wurde. Die Karikatur Zeitgemäße Vertheidigung zeigt, dass die Selbstausweisung als Vegetarier eine akzeptable Entschuldigung für alles Mögliche sein kann. Zugleich heißt dies, dass man sich dieser nicht nachweisbaren Rechtfertigung leicht bedienen konnte. Man beachte das Äußere des vermeintlichen Vegetariers, der sich in Zeiten der Fleischteuerung womöglich keine regelmäßigen Fleischmahlzeiten hätte leisten können und vielleicht eben deshalb des Verzehrs eines Mopses beschuldigt wurde.
Zeitgemäße Vertheidigung (An up-to-date defense). Max Flashar (1855–1915), 1886.
Zeitgemäße Vertheidigung (An up-to-date defense). Max Flashar (1855–1915), 1886.
Courtesy of Universitätsbibliothek Heidelberg.
Originally published in Fliegende Blätter 84, no. 2110–2135 (1886): 126.
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Zeitgemäße Vertheidigung.
„Ihr seid verdächtig, den Mops der Frau Baronin gestohlen und wahrscheinlich verspeist zu haben!“„Unmöglich, Gnaden Herr Amtsrichter!“
„Wieso unmöglich?“
„Weil ich Vegetarianer bin und zwar reinster Observanz!“
Im 19. Jahrhundert mag der Verzicht auf Fleisch in manchen Schichten noch aus der Not geboren sein, es gibt jedoch auch prominente Vertreter, die rein pflanzliche Ernährung als einen Lebensstil kultivieren und zelebrieren, der für sie nicht mit großen Entbehrungen verbunden ist. Dass dies wiederum für viele nicht nachvollziehbar war, zeigt die Karikatur Des Vegetariers Festtag, in der sich ein Gast ein fleischloses ‚Festmahl‘ gönnt, das die Gegner der Bewegung eintönig und reizlos fänden sowie als Indiz für eine zwanghafte Askese ansähen.
Des Vegetariers Festtag (The vegetarian’s festive day). Max Flashar (1855–1915), 1905.
Des Vegetariers Festtag (The vegetarian’s festive day). Max Flashar (1855–1915), 1905.
Courtesy of Universitätsbibliothek Heidelberg.
Originally published in Fliegende Blätter 123, no. 3128–3153 (1905): 167.
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Des Vegetariers Festtag.
„Heut’ hab’ ich 1000 Mark in der Lotterie gewonnen!. Da will ich mir aber einen guten Tag machen! … Kellner, bringen Sie mir viermal Spinat und eine Doppelliterflasche Mineralwasser!“
Dass der Vegetarismus drei Jahrzehnte nach Beginn der Bewegung in Deutschland vollkommen etabliert und als alternatives Lebensmodell gesellschaftsfähig war, belegt die Karikatur Beim Photographen. Wie heute fast alle Speiselokale auch einige vegetarische Gerichte anbieten, so gehörte es etwa – dies suggeriert die Karikatur mit einem Augenzwinkern – beim Photographen bereits 1909 zum Service, sich auf das Weltbild der Kunden einzustellen. Für ein gutes Porträt muss selbstverständlich jedem eine gefällige Aussicht geboten werden. Während der Photograph als weltoffen dargestellt ist, wird der Vegetarier aufgrund seiner übertriebenen Empfindlichkeit als schwieriger Fall lächerlich gemacht.
Beim Photographen (At the photographer’s). Theodor Graetz (1859–1947), 1909.
Beim Photographen (At the photographer’s). Theodor Graetz (1859–1947), 1909.
Courtesy of Universitätsbibliothek Heidelberg.
Originally published in Fliegende Blätter 131. no. 3336–3361 (1909): 42.
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Beim Photographen.
„ … Jetzt, bitte, recht freundlich! . . Schauen Sie da drüben nach dem Wurstladen hin!“ – „Danke – bin Vegetarier.“ – „Dann bitte auf die andere Seite – da ist ein Obstladen!“
Obwohl der Vegetarismus salonfähig geworden ist, erachten einige Männer den Verzicht auf Fleisch weiterhin als ‚unmännlich‘, wie es eine Karikatur von 1938 belegt, deren Figurenzeichnung deutlich moderner ist als in den anderen vorgestellten Karikaturen, die aber aus heutiger Sicht freilich auf überholten Rollenbildern beruht und sexistisch anmutet. Im 19. Jahrhundert wäre eine solchermaßen erotisch aufgeladene Darstellung der Frau kaum denkbar gewesen, deren Anblick ihren Mann an die Verführung Adams erinnert.
Unknown artist, 1938.
Unknown artist, 1938.
Courtesy of ANNO/Österreichische Nationalbibliothek.
Originally published in Die Muskete 31 (March 1938): 11.
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„Nicht einmal, wenn du mich nur mit verbotenen Früchten nährst, wirst du einen Vegetarier aus mir machen, liebe Elly!“
Ida Hofmann (1864–1926), co-founder of the vegetarian colony on Monte Verità. Unknown photographer, n.d.
Ida Hofmann (1864–1926), co-founder of the vegetarian colony on Monte Verità. Unknown photographer, n.d.
© Gusto-Gräser-Archiv Freudenstein.
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Mit einem Sprachspiel bekennt sich der Mann zu seiner doppelten Fleischeslust, wobei der Witz darin besteht, dass er den Fleischkonsum sogar dem Sex vorzieht. Die Karikatur ist jedoch weniger wegen dieses Witzes interessant als aufgrund eines damit angedeuteten Zusammenhangs von Vegetarismus und Geschlechterkampf, der seinerzeit kaum im öffentlichen Bewusstsein war: Weibliche Protagonistinnen des Vegetarismus, wie Ida Hofmann – zentrale Initiatorin der Lebensreformbewegung auf dem Monte Verità und Autorin von Vegetabilismus! Vegetarismus! Blätter zur Verbreitung der vegetarischen Lebensweise –, sahen im Vegetarismus eine Chance zur „Befreiung der Frau vom Herd“ und einen „Akt des Widerstands“ gegen den Familienpatriarchen, dem die größten Portionen und besten Fleischstücke zustanden (Bollmann 2017, 132). Mit einer Umstellung auf pflanzliche Ernährung entfällt nicht nur die zeitaufwendige Zubereitung der Fleischgerichte; idealerweise endet damit auch die „Tischzucht“, die von Zwang, Hierarchie und Diskriminierung geprägten gemeinsamen Mahlzeiten, die bei ‚kalter Küche‘ nicht notwendig sind (ebd., 133). Der Vegetarismus war also durchaus eine soziokulturelle Reformidee, die zur Gleichberechtigung beitragen sollte.