Mensch, Tier und Natur – Vorstellungen natürlicher, harmonischer (Ko-)Existenz

In heutigen Debatten über die Gründe für eine fleischlose Ernährung spielt das Kostenargument in westlichen Gesellschaften kaum eine Rolle. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass im 19. Jahrhundert die hohen Fleischpreise und -teuerungen für breite Schichten ein zwingender Grund für den unfreiwilligen Fleischverzicht waren. Ein früher satirischer Kommentar dazu, Die Fleischtheuerung, imaginiert eine Versammlung von Ochsen kurz vor ihrer Schlachtung.

Die Fleischtheuerung (The meat inflation). Theodor Haltmayer (1846–?), 1879.

Die Fleischtheuerung. Theodor Haltmayer (1846–?), 1879.

 

Die Fleischtheuerung.
(Aus einer Rede, die ein Ochs vor seinem Tode auf der Regie gehalten hat.)

Der Redner. Brüder, Genossen, Kameraden! Nachdem das Volk die Prinzipien der Vegetarianer durchaus nicht anerkennen und um jeden Preis statt der Zuspeis’ unser Fleisch verzehren will, so erlaub’ ich mir ein Hoch auszubringen auf die Herren Fleischhauer, die unser Leben wenigstens so theuer als möglich verkaufen!

Alle Ochsen. Hoch! Hoch!

Den Applaus der weinenden Ochsen kann man als Galgenhumor bezeichnen, haben die Tiere doch keinen Grund zur Freude. Voller Sarkasmus wird die Fleischteuerung als ein letzter Weg gelobt, die Menschen zur Reduktion ihres Fleischkonsums zu bewegen. Angesichts der anhaltenden Nachfrage müssten die Ochsen jedoch eigentlich die Menschen für ihr fehlendes Mitleid schelten.

Gustav Struve (1805–1870), known as a leader in the revolutions of 1848–49 and founder of the Stuttgart vegetarian society, portrayed by an unknown artist in the magazine Die Gartenlaube in 1865.

Gustav Struve (1805–1870), bekannt als Revolutionär von 1848 und Gründer des Stuttgarter Vegetarier-Vereins, porträtiert in der Zeitschrift Die Gartenlaube. 1865.

Wenn auch tierethische Gründe von der Mehrheit der frühen Vegetarier nicht an erster Stelle genannt wurden (Teuteberg 1994, 58), so waren sie doch zum Beispiel für eine ihrer wirkmächtigsten Stimmen ausschlaggebend. Gustav Struve beginnt sein Buch Pflanzenkost. Die Grundlage einer neuen Weltanschauung mit einer frühen Kindheitserinnerung, wonach er schon damals „einen tiefen Widerwillen“ verspürte, wenn er „Thiere zur Schlachtbank schleppen sah“ (1869, 1). Mit 25 Jahren hörte er auf, Fleisch zu essen; knapp 40 Jahre später gründete er einen der ersten Vegetarier-Vereine und wurde zu einer der zentralen Figuren für den Vegetarismus des 19. Jahrhunderts. Zwar bediente er sich unterschiedlicher Argumente für die fleischlose Ernährung, formulierte jedoch deutlich, dass es ihm in erster Linie um die Tiere gehe: „Doch ist mir die moralische Seite der Lehre Hauptsache. Das Schlachten der Thiere, namentlich der so nützlichen und harmlosen Hausthiere war mir immer ein Greuel“ (Baltzer 1868, 6).

Eine andere frühe, künstlerisch hochwertige verbo-visuelle Satire nimmt die neue Vegetarier-Bewegung zum Anlass, ein dystopisches Zukunftsbild zu imaginieren. Das Bild zeigt hungrige, ehemals pflanzenfressende Tiere, die sich auf Menschen stürzen, um sie zu fressen.

Zukunftsbild (Vision of the future). Ludwig Bechstein (1843–1914), 1880.

Zukunftsbild. Ludwig Bechstein (1843–1914), 1880.

 

Zukunftsbild.
Die pflanzenfressenden Thiere (zu den Vegetarianern): „Ihr habt uns unvernünftig gedeihen und uns schrecklich vermehren lassen, und habt dafür unsere Nahrung weggefressen, – nirgends mehr Gras und Kraut! So zwingt Ihr uns, Fleischfresser zu werden und Euch Alle selber zu fressen!“

Das Argument aus dem untenstehenden Text, dass Menschen, die sich rein pflanzlich ernähren, Tieren die Nahrung wegnehmen, mag vielleicht gerade noch damals in der Vorzeit industrieller Nahrungsmittelproduktion eingeleuchtet haben. Der Text offenbart die Überzeugung von einer natürlichen Ordnung, einem funktionierenden Ökosystem, denn er argumentiert, dass der Vegetarismus die natürliche Nahrungskette zerstört und damit die menschliche Spezies gefährdet habe. Auch wenn man über diese Argumentation nur lachen kann, so bleibt im Kern doch die weitsichtige Botschaft stehen, dass der Mensch im Anthropozän all seine Eingriffe in das Ökosystem überdenken solle und mit zukünftigen Konsequenzen bis hin zur Selbstzerstörung als Spezies rechnen müsse. Heutige Karikaturen würden die nun angesichts der Umweltauswirkungen der Massentierhaltung und des Weltbevölkerungswachstums tatsächlich notwendige Reduktion unseres Fleischkonsums humorvoll kommentieren, indem sie zum Beispiel die im Bildvordergrund zu sehende Heuschrecke aufgreifen, ihr neue Wichtigkeit beimessen oder sie als menschliches Nahrungsmittel der Zukunft verspotten.

Im 19. Jahrhundert wurde viel darüber gestritten, was für den Menschen als ‚naturgemäß‘ oder ‚natürlich‘ anzusehen sei. So bezeichneten die Vegetarier um Eduard Baltzer sich selbst als „Freunde der natürlichen Lebensweise“, und auch die spätere Vegetarische Rundschau trug den Untertitel Monatsschrift für naturgemässe Lebensweise. In seinem Buch Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil schreibt Baltzer: „Es ist eine auffallende Erscheinung, daß, je höher die ‚Kultur‘ steigt, desto größer die Leiden der Menschheit zu werden scheinen“ (1867, 8).

Cover of the magazine Vegetarische Rundschau. Monatsschrift für naturgemäße Lebensweise, 1897.

Cover der Vegetarischen Rundschau. Monatsschrift für naturgemäße Lebensweise. 1897. V. Jahrgang, No. 11.

 

Eduard Baltzer (1814–1887) was the founder of the first German-speaking Vegetarian Society in 1867 in Nordhausen, Germany. His vegetarian cookbook was reprinted more than 20 times between 1868 and 1939 (see Pack 2019). Shown here are the first pages of the 1903 edition.

Eduard Baltzer (1814–1887) war Theologe, Demokrat und Gründer des ersten Vegetarier-Vereins, genannt „Freunde der natürlichen Lebensweise“, 1867 in Nordhausen. Sein Vegetarisches Kochbuch wurde zwischen 1868 und 1939 über zwanzigmal aufgelegt (vgl. Pack 2019). Zu sehen ist hier die erste Doppelseite der Ausgabe von 1903.

 

The cover of the 1913 edition of Baltzer’s vegetarian cookbook.

Vegetarisches Kochbuch, das Cover von 1913.

 

Als die vegetarische Bewegung an Sichtbarkeit gewann, entspann sich eine breit geführte Debatte – nicht nur unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern auch unter gebildeten Laien – ob der Mensch nun „von Natur aus“ Fleisch- oder Pflanzenfresser sei. Dafür wurden meist das menschliche Gebiss und die Länge des Darms herangezogen und mit der Anatomie anderer Tiere verglichen, woraus beide Seiten vermeintliche Beweise für ihre Position abzuleiten wussten. Die „Gleichgültigkeit der Kinder gegen alle Fleischspeisen“, die schon Rousseau in seinem Émile als Argument angeführt hatte, diente zur Begründung der These, dass der unverdorbene Mensch kein Fleisch zu sich nehmen würde (1762, 263). Der Fleischverzehr sei ein Symptom der Abkehr von der Natur und trage zudem zur weiteren Verrohung des Menschen bei. Andere hingegen sahen das Fleischessen geradezu als Inbegriff von Natürlichkeit: „[D]ieser mörderische Krieg Aller wider Alle – er gerade ist es, der die lebende Natur ewig jung und neu und frisch erhält. Der Kampf ist das Gesunde und Normale“ (Bunge 1885, 43).

Einige Jahre nach dem obigen dystopischen Zukunftsbild erscheint ein utopisches Gegenbild, das einen Mann inmitten von Tieren zeigt, die sich vertrauensvoll um ihn scharen.

Vegetarianer-Poesie.
Wie fühle ich mich so natürlich,
So harmlos in Wald und Feld,
Seitdem ich meine Sache
Auf den Vegetarismus gestellt! –

Wie sieht der biedere Ochse
Mich so voll Vertrauen an,
Er denkt: „Du wirst mich nicht fressen,
Du sanfter Gemüsemann!“

Und die Schweine, sie grunzen so friedlich,
Es schrillt nicht ihr Angstgekreisch;
Sie denken: „Der Mann ist wie’n Jude –
Der verachtet das Schweinefleisch!“ –

Ja, selbst der Hase, der scheue –
Er fürchtet fortan mich nicht mehr; –
Er ahnt, daß ich Vegetarier
Jetzt bin, so gut wie er.

Die Fischlein, sie plätschern so munter
Und der dankbare Hummer, er spricht:
„Sollt’ der mag’re Kerl ’mal ersaufen,
Den fressen wir sicher nicht!“ –

Und streiche ich so durch die Felder –
Wie wird mir so nahrhaft, so wohl:
Wie lächeln Kartoffeln und Rüben,
Weiß-, Roth-, Grün- und Wirsingkohl!

Und die Gerste, die ich im Gebräue
Des schädlichen Biers sonst genoß; –
Zusammt mit dem Hafer, die käue
Ich jetzt, wie ein richtiges Roß.

Wie leb’ ich so einfach und billig –
Kein Kater faßt jemals mich an! –
Ich trinke nur Wasser und Millich –
Das merkt meinen Versen man an! –

—Unbekannter Autor, „Vegetarianer-Poesie“, Fliegende Blätter 84, No. 2110–2135 (1886): 24.

Vegetarianer-Poesie (A vegetarian’s poetry). Illustration by Adolf Oberländer (1845–1923) and poem by unknown author, 1886.

Vegetarianer-Poesie. Zeichnung von Adolf Oberländer (1845–1923) und Gedicht von unbekanntem Autor, 1881.

 

Das neue Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Tier gründet freilich auf dem Wissen der Tiere, dass sie vom Vegetarier nicht gefressen werden, und umgekehrt kommt er als Kost für sie nicht in Frage, weil an dem dürren Mann selbst kaum noch Fleisch ist. Die zentralen Begriffe seiner lyrischen Selbstbeschreibung sind „natürlich“, „harmlos“ und „sanft“. Er beschreibt ein Leben im friedlichen Einklang mit der Natur, zu dem auch der Verzicht auf Alkohol gehört. Die im letzten Vers versteckte Pointe des Gedichts lautet jedoch, dass man gerade den Verzicht auf Alkohol auch seinen etwas zu harmlosen Versen anmerke, die weder mit feuriger Liebeslyrik noch mit den patriotischen Gedichten der Zeit konkurrieren können und die man deshalb als ein neues Genre, nämlich „Vegetarianer-Poesie“, ansehen müsse. Das Gedicht spielt also auf den Topos des verweichlichten Vegetariers an.

Zu den frühesten Vorurteilen gegenüber Vegetariern gehörte die Unterstellung eines verweichlich­ten, schwachen Gemüts und eines „ruhige[n], leidenschaftslose[n] Leben[s]“ (Sonntagspost, 25. April 1869, zit. nach Hahn 1869, 67). Der Naturarzt Theodor Hahn wehrt sich in seiner Schrift Die Ritter vom Fleische gegen den Vorwurf verschiedener von ihm dort zitierter Zeitungen, „daß die Pflanzen­kost ruhige, apathische, schlaffe, sanfte, folgsame, friedliche Hirtenvölker erzeuge! O, des Unsinns fleischgenährter Hirne!“ (1869, 67).

Die Gemengelage ist komplex und teilweise paradox: Männer wie Erich Mühsam, der auf dem Monte Verità mit dem Vegetarismus in Berührung kam, sahen in dieser Ernährungsweise eine Bedrohung für die „Männlichkeit“ und diffamierten den Lebensstil als weiblichen Unfug (Bollmann 2017, 118–120); zugleich aber waren  in den Vegetarier-Vereinen die Männer in der Überzahl. Entsprechend findet sich unter vielen Karikaturen auch nur eine Einzige, die eine weibliche Vegetarierin in den Vordergrund stellt, überschrieben mit dem Titel Rache.

Rache (Revenge). Ludwig Bechstein (1843–1914), 1880.

Rache. Ludwig Bechstein (1843–1914), 1880.

 

Der Text zum Bild:

Rache.
Eine aus Vegetarianern bestehende Gesellschaft war jüngst beim Spazierengehen zwischen eine Heerde Rindvieh gerathen. Ein Ochse erboste sich über den rothen Shawl, welchen eine der jüngeren Damen trug und verfolgte dieselbe mit solcher Wuth, daß sie sich nur mit genauer Noth über den Zaun retten konnte, der die Viehweide begrenzte. „So, du grobes, garstiges Thier!“ rief die junge Dame, welche vor Angst und Aufregung am ganzen Körper bebte, der wüthenden Bestie über den Zaun hinüber zu: „Das ist also der Dank dafür, daß ich ein halbes Jahr lang nichts als wie Pflanzenkost genossen habe! Von heute an esse ich wieder alle Tage Rindfleisch.“ 

Hier ist die in der vorangehenden Karikatur visualisierte harmonische Mensch-Tier-Beziehung wieder ins Gegenteil umgeschlagen: Aus dem zahmen Ochsen (des anderen Bildes) ist in den Augen der Frau ein wilder Stier geworden. Obwohl die Reaktion des ahnungslosen – nach Meinung der Frau undankbaren – Tieres nicht gegen die Frau gerichtet ist, nimmt diese sein Verhalten zum Anlass, sich mit der Erklärung zu rächen, es fortan wieder als Nahrungsmittel anzusehen. Dies lässt die Entbehrung der Vegetarierin und die Enttäuschung ihrer Illusion einer vollends friedlichen Koexistenz nur erahnen.