Einführung in die Ausstellung

Wie die prominente deutschsprachige Nachkriegsautorin Christa Wolf in ihrem Roman von 1986 über den Atomunfall in Tschernobyl schrieb, auf Joseph Conrads Roman über die europäische Kolonialtradition bezugnehmend, haben literarische Texte die Fähigkeit, direkt ins „Herz der Dunkelheit“ unserer Zivilisation zu blicken und unsere toten Winkel zu fokussieren. Fiktion im Besonderen kann Ideen Ausdruck verleihen, die wir in der Realität selten anerkennen oder die wir lieber effektiv verdrängen. Aus diesen und weiteren Gründen ist Literatur eine exzellente Plattform, um das Thema der Mensch-Natur-Verwicklungen zu reflektieren. Dies trifft besonders auf dessen problematische Aspekte zu; ein Thema, welches in einer Vielzahl literarischer Texte innerhalb der deutschsprachigen Tradition besondere Beachtung findet.

An urban forest in Jakarta, Indonesia. Photograph by Yogas Design.

Ein städtischer Wald in Jakarta, Indonesien. Foto von Yogas Design.

Ziel dieser Ausstellung ist es aufzuzeigen, auf welche Weise Literatur wichtige Beiträge leisten kann, um die Beziehungen zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur zu verstehen und zu thematisieren. Sie fragt insbesondere danach, wie deutschsprachige Literatur und Kultur der letzten zwei Jahrhunderte die Beziehung zwischen Natur und Mensch repräsentiert und dadurch geprägt hat. Welche Aspekte dieser Beziehung spielen eine Rolle, zu welchem Zeitpunkt und in welcher poetischen Form? Die Geschichte, die sich aus dieser Tradition herausstellt, ist eine Geschichte von tiefen Verwicklungen, der Melancholie über die zunehmenden Probleme mit unserer Umwelt, und teilweise sogar offener Kritik am zunehmenden Ausmaß und der Art dieser Entwicklungen.

Die ersten Anzeichen einer literarischen Sensibilität gegenüber Verwicklungen von Mensch und Natur können im 19. Jahrhundert festgestellt werden, was einer der Gründe dafür ist, warum ältere literarische Texte neben modernen und eher zeitgenössischen Beispielen wiedergegeben werden. Während in dieser Ausstellung aus Platzgründen vor allem viele zeitgenössische Beispiele fehlen, wird diese bedauerliche Tatsache hoffentlich durch den historischen Entwicklungsverlauf ausgeglichen, dem die Ausstellung Ausdruck verleihen möchte.

Wissenschaftler haben kürzlich begonnen, die Verwicklung von Mensch und Natur, welche sich im Verlauf der letzten 250 Jahre intensiviert hat und mit der industriellen Revolution, der Verbreitung von Atomtechnologie und globalem Handel in einer immer stärker vernetzten Weltwirtschaft mündete, als „Anthropozän“ zu bezeichnen. Dies ist ein Begriff für ein Zeitalter, in dem Menschen als Akteure auf geologischer Ebene agieren und die Fähigkeit besitzen, die atmosphärischen Systeme der Erde zu beeinflussen. In den Jahren 2014-16 organisierte das Deutsche Museum in München in Zusammenarbeit mit dem Rachel Carson Center of Environment and Society die erste Ausstellung zu diesem Thema und eine begleitende virtuelle Austellung.

Diese virtuelle Ausstellung von literarischen Quellen ist als ergänzende Ressource für ein tieferes Verständnis der kulturellen Dimensionen des Anthropozän konzipiert. Sie ist in vier Kapiteln organisiert, von denen jedes einen unterschiedlichen Aspekt der Verwicklungen zwischen Mensch und Natur beleuchtet, indem es fünf bis sieben literarische Beispiele bespricht. Obwohl sich die Ausstellung auf vier Themenbereiche beschränkt, wollen andere Themen wie Wasser, Nahrung und die Beziehung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur ebenfalls erkundet werden. Womöglich werden diese Themen Teil eines umfassenderen Denkansatzes in einer späteren Phase des Projekts sein.

 

Sixteenth-century illustration of the Bolivian city Potosí, from Crónica del Perú. Pedro Cieza de León, 1553.

Illustration der bolivianischen Stadt Potosí aus dem 16. Jahrhundert, aus Crónica del Perú. Illustration von Pedro Cieza de León, 1553.

1. Landschaftsveränderungen: Menschen haben Landschaften seit den Anfängen von Zivilisation verändert. Mit der europäischen Expansion in die Neue Welt und rund um den Globus während der Kolonialzeit, begannen jedoch radikalere und systematischere Landschaftsveränderungen – eine Entwicklung, die zu noch weitreichenderem Handel, größerem Bedarf nach Beförderung, noch nie da gewesenem Bevölkerungswachstum, der Verbreitung industrieller Landwirtschaft, raschem technologischem Fortschritt und immer weiter intensiviertem Abbau natürlicher Ressourcen führte.

Die deutschen Romantiker halten noch am Bergbau und dem Abbau von Mineralien fest, im Gegensatz zur rationalen Ausbeutung der Natur während der Aufklärung.

Der bekannte deutsche Dichter, Romancier, Dramatiker und Wissenschaftler Johann Wolfgang von Goethe jedoch positioniert in seinem berühmten Theaterstück Faust den Protagonisten an der Schwelle eines Naturverständnisses, das weniger romantisch und sehr viel mehr interessiert am Erkunden moderner, technischer Lösungen für Umweltprobleme ist. Am Ende jedoch wird Faust für seine technologische Hybris bestraft.

Die realistischen Autoren der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederum begannen, sich auf die problematischeren Aspekte der Verwicklungen zwischen Mensch und Natur zu konzentrieren, so wie beispielsweise die eindringenden menschlichen Siedlungen und die Expansion der Verkehrssysteme. Moderne und zeitgenössische Literatur stellt das zerstörerische Ausmaß dieser Verwandlungen schließlich offener und kritischer heraus.

 

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer [Wanderer above the sea of fog], 1818. Oil on canvas, 98.4 × 74.8 cm. Held by Kunsthalle Hamburg.

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818. Öl auf Leinwand, 98,4 x 74,8 cm. Kunsthalle Hamburg.

2. Berge, Gletscher und Klima: Berge und Gletscher sind Bestandteil vieler deutschsprachiger literarischer Beschreibungen. Der italienische Humanist Francesco Petrarca allerdings war es, der das Genre der literarischen Bergbesteigung etablierte. Der deutsch-schweizerische Autor Albrecht Haller schrieb danach das erste deutschsprachige Gedicht, welches sich explizit mit der Bergnatur beschäftige.

Während die deutschen Dichter der Romantik die Bergnatur noch als zutiefst doppeldeutigen Ort darstellten, wo Natur gleichzeitig große Gefahr und große Anziehungskraft darstellt, versucht Goethes Faust die Bergnatur in ihrer Materialität durch wissenschaftliche Studien zu verstehen.

Später, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde der österreichische Realist Adalbert Stifter zum ersten deutschsprachigen Schriftsteller (und Maler), der der Natur in seinen Werken eine lautere Stimme verlieh. Der Modernismus baut auf diesem Durchbruch auf und konzentriert sich auf die meist zerstörerischen Folgen der Verwicklungen zwischen Mensch und Natur. Hierdurch stellt er eine Verbindung zu zeitgenössischen Themen wie globaler Erwärmung und Klimawandel her.

 

Map of the world’s intact forest landscapes. Graphic by Peter Potapov.

Karte der intakten Wälder der Welt. Grafik von Peter Potapov.

3. Wälder und Entwaldung: Diese Themen sind von besonderer Bedeutung in der österreichischen Literatur. Adalbert Stifters fiktionale Charaktere erlernen, obwohl sie noch vertraut sind mit den alten Geschichten über den Wald als Zufluchtsort vor der Zivilisation, jedoch auch dessen Unwägbarkeiten.

Die moderne österreichische Autorin Marlen Haushofer schließt ihre Protagonistin hinter einer mysteriösen Wand ein, wo diese lernen muss, mit ihren Tieren nachhaltig in der Natur zu leben. Im Kontrast hierzu leiden Nobelpreisträgerin Elfriede Jelineks österreichische Wälder unter menschlichem Einfluss: Sowohl Touristen, als auch Holzfäller beanspruchen die österreichische Landschaft für ihre Zwecke.

 

A fast food container in the forest. Photograph by Netzschrauber.

Ein Fast Food Behältnis im Wald. Foto von Netzschrauber.

4. Umweltverschmutzung und Abfall: Wilhelm Raabe war im 19. Jahrhundert der erste deutschsprachige Autor, der in seinem Roman über die Notlage eines Müllers, welcher erfolgreich gegen eine übermächtige Zuckerfabrik kämpft, die industriellen Abfall in den lokalen Wasserlauf entsorgt, auf Umweltverschmutzung aufmerksam machte. Obwohl ein Gerichtsurteil die Fabrik verpflichtet, ihn für seine Verluste zu entschädigen, ist der Müller nichtsdestotrotz entmutigt und gibt sein Geschäft auf. Am Ende weicht die idyllische Mühle einer modernen chemischen Reinigung.

 Das Thema des Abfalls und der Verschmutzung in der Literatur des 20. Jahrhunderts sehr viel prominenter. In den 1970er Jahren schreibt der deutsche Filmemacher, Schauspieler und Regisseur Rainer Werner Fassbinder ein kontroverses Theaterstück über eskalierte Stadtentwicklung in Frankfurt, die menschlichen Abfall produziert. Der DDR-Dichter und Dramatiker Heiner Müller schafft eine poetische Vision eines Sees in der Nähe Ostberlins, der voll von menschlichem und industriellem Abfall ist. Christa Wolf thematisiert schließlich atomare Verseuchung in ihrem Roman über den Tschernobyl-Unfall 1986.

Mithilfe einer kleinen Auswahl literarischer Beispiele – viele von ihnen Werken entnommen, die die persönliche Präferenz der Kuratorin widerspiegeln – hofft diese Ausstellung, eine Konversation anzustoßen und weiterführende Reflektion dieser und anderer Themen hervorzurufen, die mit den Verwicklungen zwischen Mensch und Natur in Verbindung stehen. Während ich den Fokus der Ausstellung auf Narrative, Drama und die philosophische Tradition lege, sollten andere Wissenschaftler den reichen Korpus der zeitgenössischen Poesie erkunden, welcher Verwicklungen von Mensch und Natur offen und kritisch thematisiert. Ein Ausgangspunkt hierfür wäre beispielsweise die Sammlung von Gedichten Lyrik des Anthropozän, die von den KuratorInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ am Deutschen Museum München zusammengestellt wurde.

Ich lade die BesucherInnen ein, mich auf einem kuratierten Rundgang durch eine kleine Auswahl aus der reichhaltigen deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zu begleiten. Fachwissen ist keine Voraussetzung. Ich möchte BesucherInnen außerdem einladen, zu reflektieren, was sie lesen. Schließlich spiegelt Literatur nicht nur wichtige Diskussionen des Tagesgeschehens, sondern formt auch unsere Meinung zu sozialen und politischen Themen und bietet eine kritische Perspektive auf diese Themen.

Danksagung

Die Autorin dankt zwei anonymen Peer Reviewern für ihr Feedback und dem Team vom Environment & Society Portal am Rachel Carson Center für dessen Unterstützung. Vielen Dank an Katrin Kleemann und Iris Trautmann für die Koordination und Kommunikation, an Kimberly Coulter, Jonatan Palmblad und Katie Ritson für ihre redaktionelle Arbeit, an Susanne Köller für ihre Arbeit an den deutschen Texten, und an Mara Appelhagen und Anne Schilling für ihre Hilfe bei der Formatierung. 

Über die Autorin

Sabine Wilke

Sabine Wilke ist Professorin der Germanistik an der University of Washington. Sie ist außerdem assoziiert mit und lehrt im European Studies Programm ihrer Universität. Ihre Forschungs- und Lehrinteressen umfassen moderne deutsche Literatur und Kultur, Ideengeschichte und -theorie sowie Kultur- und Bildwissenschaften. Sie hat Bücher und Artikel zu Körperkonstruktionen in der modernen Literatur und Kultur, zur deutschen Wiedervereinigung, der Geschichte des deutschen Films und Theaters, zu deutschen Autoren und Filmemachern der Gegenwart sowie deutschem Kolonialismus veröffentlicht.

Mit Unterstützung der Alexander von Humboldt Stiftung leitet Wilke ein transatlantisches Forschungsnetzwerk zu Environmental Humanities (geisteswissenschaftliche Umweltstudien). Sie ist zusammen mit Japhet Johnstone Herausgeberin einer Aufsatzsammlung über Readings in the Anthropocene: The Environmental Humanities, German Studies and Beyond (Bloomsbury Press 2017).  2013 war sie Carson Fellow am Rachel Carson Center München und hat 2015 ein Buch zu Narrating and Depicting Nature: German Culture and the Environmental Imagination (Brill) veröffentlicht. Ihre akademische Arbeit zu deutscher Literatur und Kultur im Kontext der Environmental Humanities dreht sich um die Themen Verschmutzung, Tourismus, Verschwendung, Visionen der Natur vor dem Menschen und das Konzept des Anthropozän.